Eine fließende Lebensader der Natur

Am Ortsrand von Stein-Wingert, auf einer kleinen Anhöhe, liegt der Friedhof des 200-Seelen-Dorfes, und ein Wanderparkplatz gleich daneben. 30 Meter unterhalb, am Fuß der von dort steil abfallenden Böschung, strömt die Nister vorbei auf ihrem knapp 64 Kilometer langen Weg vom Berg „Fuchskaute“ in die Sieg. In dem für den Westerwald charakteristischen Fließgewässer steht an diesem Morgen Manfred Fetthauer, gemeinsam mit PD Dr. Carola Winkelmann, knietief in den Fluten – und angelt auf besondere Weise.

Ein wichtiges Motiv für die Gründung der „ARGE Nister“ sei der Wunsch gewesen, den Lachs wieder heimisch werden zu lassen im Westerwald, erzählt Manfred Fetthauer, hier mit PD Dr. Carola Winkelmann beim Elektroangeln. Fotos: Schmalenbach

Nein, der Kormoran und Manfred Fetthauer werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Dabei geht es dem Vorsitzenden der „Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nister“ nicht um Sympathie oder Antipathie. Vielmehr bemängelt er, dass eine größere Anzahl des schwarzen Vogels die Nister leerfische, dass solcherlei an vielen Orten in Deutschland passiere, der Kormoran zuweilen aber sogar im Rahmen von sogenannten „Naturschutzprojekten“ eigens angesiedelt werde. Der gebürtige Stein-Wingerter kritisiert kopfschüttelnd, dass man „Naturschutz in Deutschland oft nur bis zur Wasseroberfläche“ denke, wie er das formuliert.

Der Gründer der ARGE beschäftigt sich seit bald drei Jahrzehnten mit dem, was im Wasser und im Flussbett passiert, was da lebt oder nicht lebt und welchen Einfluss das aufs gesamte Ökosystem hat. Um darüber Erkenntnisse zu gewinnen, führt er zum Beispiel Maßnahmen wie das besagte Angeln mit PD Dr. Carola Winkelmann durch, die die „AG Fließgewässerökologie“ an der Universität Koblenz leitet: Mit einer Elektroangel treiben die beiden Wissbegierigen einige Minuten lang mithilfe eines Magnetfeldes alles an Fischen in einem Kescher zusammen, was einige Meter um sie herum bei Stein-Wingert in der Nister schwimmt.

„Das ist die Nase. Das ist der wichtigste Fisch hier. Dieser karpfenartige Fisch heißt Nase, weil er hier wirklich so eine kleine Stupsnase hat. Und das Wesentliche ist diese verhornte Unterlippe: Damit kratzt die Nase die Algen von den Steinen ab, wie ein Hobel“, erläutert Carola Winkelmann, während sie ein eingefangenes Exemplar in den Händen hält. Werde die Nase dezimiert, breiteten sich Algen ungehemmt aus – der Sauerstoffgehalt im Fluss sinke.

Die Ausbeute beim Elektroangeln ist an diesem Morgen überaus erfreulich, wie die Gewässerkundler am Ufer feststellen: Nicht allein, dass ein großer gelber Eimer nach wenigen Minuten fast voll geworden ist. Unter den ausschließlich zum Zwecke der Bestandskontrolle und Bestimmung vorübergehend eingefangenen Tiere ist sogar ein winzig kleiner Lachs! Ein riesiger Erfolg, denn die Lachs(wieder)ansiedlung in der Nister ist eines der ARGE-Projekte.

Gleichwohl weisen drei der größeren Fische im Eimer Verletzungen auf, die, da ist der Experte sicher, ihm der Kormoran auf einem Beutezug durch Krallen oder Schnabel beigebracht haben muss: „Die verletzten Stellen der Fische verpilzen, wenn es jetzt wieder wärmer wird, und bald darauf sterben sie“, legt Manfred Fetthauer die Stirn in Falten.

Gerade im Winter werden die Fischbestände in der Nister von ihren natürlichen Räubern „übernutzt“, wie die Wissenschaft das nennt. Denn in der kalten Jahreszeit drängen die Fische dichter aneinander und haben einen reduzierten Stoffwechsel – und sind somit eine besonders leichte Beute für Fischfresser. „Aber auch die Folgen des Klimawandels wirken sich negativ auf die Gewässerqualität aus. In Zukunft müssen beim Gewässerschutz also neben Verbau und Nährstoffeinträgen aus Landwirtschaft und Kläranlagen auch der erhöhte Fraßdruck auf Fische und die Klimawandelfolgen bedacht werden, um den ökologischen Zustand der Nister weiter zu verbessern. Nur so sind auch die engagierten Ziele der EU zu erreichen, Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen der Gewässer wie zum Beispiel die Selbstreinigungskraft zu erhalten“, betont Carola Winkelmann.

Während die Privatdozentin den Fang behutsam, Fisch für Fisch wieder in die Nister und damit unversehrt in die Freiheit entlässt, schildert Manfred Fetthauer, warum er sich über den eben betrachteten Lachs so freut: „Der Lachs war bis etwa 1900 ein Grundnahrungsmittel. Der letzte wurde hier an der Nister Heiligabend 1924 gefangen. Genau an derselben Stelle hatten wir 76 Jahre später wieder Lachs!“ Seit 20 Jahren betreiben Manfred Fetthauer und die „ARGE Nister“ seine Wiederansiedlung. Die jedoch sei mühsam und zäh – der Kormoran frisst eben auch gerne Lachs.

Die Renaturierung der Nister und der Aufbau einer ökologisch hochwertigen Artengemeinschaft sind das vorrangige Ziel der „ARGE Nister“. Auch ein intaktes Kiesbett ist dabei wichtig.

Alles in allem, daran lässt der in Stein-Wingert Lebende keinen Zweifel, stehe es um die Artenvielfalt in unseren Flüssen und Bächen ohnehin nicht zum Besten. Er verweist auf zahlreiche Studien, die die Situation, auch außerhalb des Westerwaldes, als dramatisch darstellen: So hat zum Beispiel erst im vergangenen Januar das Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) berichtet, dass die Forelle auf die Liste der in Deutschland gefährdeten Fische gesetzt worden ist – zum ersten Mal überhaupt. Insgesamt gelten dem Institut zufolge sogar schon mehr als die Hälfte aller einheimischen Arten als gefährdet – oder sind bereits ausgestorben!

Fragt man nach den Ursachen für diese beklagenswerte Entwicklung, verweist Fischexperte Dr. Christian Wolter vom IGB auf den Verlust von Lebensräumen durch Gewässerverbauung und -verschmutzung sowie die Folgen des Klimawandels. Ein ebenso negatives Bild gibt die „Rote Liste“ des Bundesamtes für Naturschutz wieder. Sie führt 38 Süßwasserfischarten in unserem Land als bestandsgefährdet auf – nach „nur“ 22 im Jahr 2009.

„Obwohl die Nister schon in den 1970er-Jahren ausgebaut und damit stark verändert wurde, begannen die richtigen Probleme hier erst in den späten 1990ern. Das Ökosystem drohte umzukippen, da Algenmassenentwicklungen die Lebensbedingungen für alle Gewässerbewohner dramatisch verschlechterten. Seitdem kämpfen wir für die Nister – in den letzten Jahren mit intensiver Unterstützung der Wissenschaft. Das hilft enorm, denn im Gewässerschutz hängt alles mit allem zusammen“, sagt Manfred Fetthauer.

Und er sagt ebenso, dass manchen Naturschützern beziehungsweise einigen Naturschutzorganisationen die Bedeutung der Fischarten und deren Vielfalt für das Ökosystem Fluss nicht bewusst sei. Oder dieser Zusammenhang mitunter sogar aus ideologischen Gründen bewusst ausgeblendet werde. „Dabei sind das Systeme, die sich über Jahrtausende aufgebaut haben. Das Ökosystem Fließgewässer ist eine Lebensader in der Natur.“ Diese helfe sogar, so Fetthauer weiter, Schadstoffe wie Nitrate aus der Landwirtschaft oder Medikamentenrückstände abzubauen. Eine intakte Sauerstoffversorgung im Wasser sei wichtig fürs Grundwasser und vieles mehr.

Das Bundesnaturschutzgesetz betont in seinem ersten Paragraphen unter der Ziffer 3 gleichermaßen: „Zur dauerhaften Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts sind insbesondere (…) Meeres- und Binnengewässer vor Beeinträchtigungen zu bewahren und ihre natürliche Selbstreinigungsfähigkeit und Dynamik zu erhalten; dies gilt insbesondere für natürliche und naturnahe Gewässer einschließlich ihrer Ufer, Auen und sonstigen Rückhalteflächen (…)“

Die Forscher der Universität Koblenz vermochten ihrerseits nachzuweisen, dass gesunde Fischbestände, insbesondere die Arten Nase und Döbel, die Gewässerqualität maßgeblich verbessern können.

„Ich bin hier groß geworden. Aus meinem Schlafzimmerfenster in meinem Elternhaus konnte ich auf den Fluss gucken“, erzählt Manfred Fetthauer, am Ufer desselben stehend. „Jeden Tag, oder spätestens jeden zweiten Tag waren wir im Wasser.“

In diesem Bereich müssten, wenn sie ihre Winterquartiere verlassen und wieder in andere Abschnitte des Flusses schwimmen, in einer intakten Nister gut 20 Arten in ausreichender Zahl leben.

Mit vier oder fünf Jahren habe er gewusst: „Unter diesem Stein ist eine Forelle, unter jenem Stein ist eine Forelle. Ich ‚rieche‘ inzwischen den Zustand der Nister – man bekommt eine Verbindung, ein Empfinden dafür.“ Fetthauer berichtet von einem Spaziergang mit seiner Frau, vier oder fünf Jahre müsse der nun zurückliegen. Das Paar war an einem Samstag nahe der Abtei Marienstatt unterwegs, wo der Fluss sieben, acht Kilometer entfernt von Stein-Wingert vorbeifließt. „Ich sagte zu meiner Frau: ‚Ich rieche es, mit der Nister stimmt etwas nicht!‘“ Die Gattin habe geantwortet: „Ach, was du immer hast!“ Wieder daheim, holte der Gewässerforscher sein Messgerät, bestimmte anschließend den elektrischen Leitwert des Wassers, der, wie er ausführt, normalerweise um 250 liege, doch an jenem Samstag bei über 400… Er fuhr den Fuss ab und fand als Ursache ein übergelaufenes Überlaufbecken einer Kläranlage.

Einst war Manfred Fetthauer Servicetechniker bei der „Telekom“. Kurz vor dem Renteneintritt hatte er ein mit 1.800 Überstunden gefülltes Arbeitszeitkonto. Zwischen Rhein und Sieg war der Westerwälder in seinem Job viele Jahre unterwegs, „und wenn man irgendwo über eine Brücke fährt und sieht unten keine Fische mehr: Dann muss ich mich fragen, warum keine mehr da sind!“

Wenn man der Natur verbunden sei, müsse man daraufhin etwas tun, erklärt der ARGE-Vorsitzende, woher er, trotz mancher Rückschläge, in all den Jahren seine Motivation für die ehrenamtliche Arbeit beziehe. Die Verleihung des Gewässerentwicklungspreises sei da ein aktueller Antrieb, sich weiter für intakte Systeme in der Nister, einigen ihrer Nebenflüsse oder auch der Wied einzusetzen.

Uwe Schmalenbach