„Kernenergie ist eine wunderbare Ausrede“

Seit vielen Jahren wird am Stammtisch gerne darüber diskutiert, dass in Deutschland „die Lichter ausgehen“, sobald die Stromerzeugung vermehrt durch erneuerbare Energien erfolgt. Doch im vergangenen Jahr erzielten eben diese Rekordanteile, deckten 2023 erstmals mehr als die Hälfte des gesamten Jahres-Stromverbrauchs in Deutschland. In den letzten Dezemberwochen lag der Anteil erneuerbarer Energien an der gesamten Nettostromerzeugung in Deutschland sogar deutlich über 80 Prozent – und trotzdem fuhren U-Bahnen und Aufzüge, hatten die Haushalte Licht und die Industrie Energie für ihre Anlagen. Woher stammen dann bloß all diese Energiemythen? Darüber sprach Andra de Wit mit Professor Dr. Volker Quaschning, Ingenieurwissenschaftler und Experte für regenerative Energien.

Volker Quaschning ist Ingenieurwissenschaftler und Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Foto: Quaschning

Sie beschäftigen sich schon lange mit Fragestellungen rund um die Energiewende. Haben Sie den Eindruck, dass es seit den 1990er-Jahren viele „Argumente“ gegenüber erneuerbaren Energien gibt, die sich bei näherer Betrachtung als falsch oder verzerrt herausstellen?
Die Mythen verändern sich ein bisschen. Ein Argument in den 1990er-Jahren war etwa, dass mehr als vier Prozent erneuerbare Stromerzeugung in Deutschland technisch nicht möglich sei. Heute sind wir bei über 50 Prozent. Das heißt, das „technisch Unmögliche“ haben wir erreicht. Und inzwischen sagt man: „Mehr geht ja nicht.“ Als Ingenieurwissenschaftler weiß ich, dass man natürlich sehr viele Sachen dafür tun muss, damit etwas klappt. Ohne Veränderungen kann man die Speicher- oder Netzfragen nicht klären. Aber einfach zu sagen, dass etwas nicht geht: Dadurch gelingt ja nichts.

Es wird immer wieder erzählt, dass die Netze zusammenbrechen, wenn Großkraftwerke fehlen. Aber: Allein in den letzten Dezemberwochen 2023 lag der Anteil erneuerbarer Energien an der gesamten Nettostromerzeugung in Deutschland in der Spitze über 80 Prozent – und doch sind die Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen nicht ausgegangen.
Ja, und das war eigentlich auch schon vor 30 Jahren klar, dass das technisch möglich ist. Natürlich muss man die Maßnahmen dazu treffen. Wir brauchen technische Lösungen. Ein altes System kann man nicht eins zu eins in ein neues übertragen, da muss man ein paar Weichen stellen und, wie gesagt, Speicher und Netze mitbedenken.

Beweisen die Rekordanteile der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung, dass wir auf einem guten Weg sind?
Ja und nein. Wir sollten immer den Klimaschutzpfad betrachten: Beim Strom sieht es schon ganz gut aus, aber die Bereiche Verkehr und Wärme sind weiterhin die Sorgenkinder. Wir erzeugen deutlich über 50 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien. Sehen wir uns aber alle Sektoren an – also Strom, Wärme, Verkehr, Industrie –, liegen wir ungefähr bei 21 Prozent erneuerbare Energien. Das heißt, es fehlen noch knapp 80 Prozent zur Energiewende. Wir brauchen viel mehr Tempo beim Ausbau.

Man hört oft, dass unsere Stromversorgung nur deshalb funktionieren würde, weil Deutschland viel Strom dazu kaufe. Aber ist es nicht vielmehr so, dass wir eher einen Stromüberschuss haben und viel exportieren können?
Auch hier gilt: Ja und nein. In den letzten zehn Jahren haben wir einen deutlichen Überschuss gehabt. Das hat sich etwas geändert. Mit dem Abschalten der Kernkraftwerke und mit den hohen Gas- und Kohlepreisen haben wir im Jahr 2023 leicht importiert, keine großen Mengen. Aber nicht, weil wir es mussten, sondern aus rein ökonomischen Gründen: Es ist einfach wirtschaftlicher, mal ein Kohlekraftwerk in Deutschland auszuschalten und von einem billigeren im Ausland Strom zu importieren. Wir sind zu einem Importland geworden, das ist richtig. Und es kommt so auch Atomstrom nach Deutschland, das lässt sich bei einem europäischen Stromhandel nicht vermeiden. Doch es kommt mehr Strom aus erneuerbaren Energien als Atomstrom zu uns. Insofern wird da, wie Sie schon sagten, vieles verzerrt wiedergegeben. Die Suggestion, dass wir Kernenergie aus dem Ausland bräuchten, damit unsere Stromversorgung sicher ist, ist komplett falsch.

Auf www.electricitymaps.com kann jeder selbst nachsehen, welche Region der Welt wie viel CO2 produziert und aus welchen Quellen der Strombedarf gespeist wird. Für Deutschland zeigen die Daten, dass die Erneuerbaren im gesamten Jahr 2023 weit mehr als die Hälfte unseres Stromverbrauchs decken konnten. Grafik: electricity maps

Welche „Hürden“ und Vorbehalte werden noch vorgebracht?
Die Dunkelflaute wird immer wieder aufgeworfen oder die Grundlastfähigkeit. Auch die Kernenergie kommt ständig als Mythos hervor. Sie wird in keinem Land der Welt zur Klimaneutralität führen und hat weltweit verschwindend geringe Anteile an der Gesamtenergieerzeugung. Es gibt nur noch wenige Länder wie Frankreich, die da ein bisschen drüber liegen. Trotzdem wird von manchen ein Boom der Kernenergie unterstellt, der gar nicht stattfindet. Wenn man sich die Zahlen ansieht, erkennt man das ganz deutlich.

Auswertungen der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) belegen tatsächlich, dass das Gegenteil der Fall ist: dass die Zahl der AKW 2023 weltweit geschrumpft und die Atomstromproduktion heute niedriger als vor 20 Jahren ist. Dennoch wird in manchen politischen Kreisen behauptet, dass es ein Fehler gewesen sei, Atomkraftwerke abzuschalten – und dass im Ausland weiterhin auf Atomkraft gesetzt werde, nur hierzulande nicht.
Ja, auch in Deutschland – von der AfD bis hinüber zu CDU/CSU – wird die Kernenergie gerne als Lösung entgegengebracht. Die Frage ist: Warum tut man das? Selbst, wenn man drei Kernkraftwerke weiter laufen lassen würde, würde dies bei der Energiewende überhaupt nicht helfen. Was für ein Wunsch steckt also dahinter?

Können Sie sich das erklären?
Die Lösung ist, glaube ich, ganz einfach: Die Kernenergie ist ja eine wunderbare Ausrede! Wenn ich Kernenergie als etwas Gutes begreife, verschiebe ich das Lösen der Probleme wieder in die Zukunft. Denn uns allen ist klar, dass wir Veränderungen brauchen, diese aber nicht von allen mitgetragen werden – wir sehen das aktuell etwa bei den Bauernprotesten wegen des Subventionsabbaus im Energiebereich. Und das ist natürlich für die Politik ebenso wie für die Gesellschaft unangenehm. Deswegen versucht man Ausreden zu finden, warum wir die Veränderungen eigentlich gar nicht benötigen. Dazu dient entweder die Kernenergie oder Aussagen wie: „Das mit den erneuerbaren Energien klappt sowieso nicht“, „Die anderen machen das ganz anders.“ Das sind die immer gleichen „Argumente“, die aber alle in dieselbe Richtung gehen: Wir wollen nichts verändern, weil wir Angst vor Veränderung haben. Und daher suchen wir nach einer Ausrede, warum alles so bleiben kann, wie es ist.

Findet bewusste Täuschung nur durch politische Akteure statt oder auch durch Lobbyarbeit?
Ich denke, in den 1990er-Jahren war da ganz sicher die Energielobby die treibende Kraft. Große Energiekonzerne, die Kohle- und Atomkraftwerke betrieben haben, hatten natürlich kein Interesse an Veränderung. Das hat sich ein bisschen gewandelt: Die großen Energiekonzerne haben mittlerweile verstanden, dass Atom- und Kohleenergie keinen Sinn mehr machen, denn auch diese Konzerne müssen betriebswirtschaftlich denken. Doch es gibt viele Interessensgruppen, und zu denen zählt auch noch die Öl- und Gaslobby in den westlichen Ländern. Wir sprechen viel über Desinformation aus Russland, die nach Deutschland überschwappt: da steht das Interesse dahinter, weiter Gas zu verkaufen. Die Angst vor den Erneuerbaren ist für politische Kräfte aus dem Rechts-Außen-Bereich weltweit durchaus vorteilhaft. Hauptsächlich hört man die Argumente aus der Politik und aus der Gesellschaft. Ich glaube, dass die Politik einfach das ausspricht, was die Gesellschaft sich wünscht.

Und was ist das konkret?
Dass es keine Klimaveränderung gibt und die Welt so bleiben kann, wie sie ist. Am besten also zurück in die 1980er- oder 1990er-Jahre, wo angeblich „stabile Verhältnisse“ herrschten. Dieses Narrativ wird von der Politik bedient. Da wird dann in Bayern die Laufzeit eines Atomkraftwerks verlängert und im Gegenzug verkündet, dass man dort ja nun keine Windkrafträder braucht. Alles, was unangenehm ist, kann unterbleiben. Das wird zwar so nicht ausgesprochen, aber zwischen den Zeilen verstehen das zumindest die Menschen, die diese Politiker wählen. Natürlich sind das Versprechen, die nicht eingehalten werden können.

Können Sie das genauer erläutern?
Das ist reine Machtpolitik. Man verspricht Menschen etwas und hofft, dass dies in drei, vier Jahren wieder vergessen sein wird oder alles am Ende doch nicht so schlimm kommt und man das Problem einfach aussitzen kann.

Wie funktioniert diese Strategie im Detail?
Es werden Ängste geschürt. Die AfD möchte zum Beispiel Angst vor den Grünen schüren, denen ja Anliegen rund um erneuerbare Energien tendenziell zugeordnet werden. Es wird eine Antiposition eingenommen und gegen die andere Position Stimmung gemacht, um Stimmen zu erhaschen.

Man müsse alles versuchen, um die Gesellschaft aufzuklären, meint Quaschning (hier bei einem Vortrag): „Deshalb mache ich mich in der Wissenschaftskommunikation stark. Denn leider können viele Menschen nicht mehr zwischen Fake News und wissenschaftlicher Nachricht unterscheiden.“ Foto: Bruce B./Dieffenbacher

Von einer normalen Debattenkultur kann da also nicht die Rede sein?
Ja, und was mir ein bisschen Sorge macht: Die Klimaschutzziele werden derzeit gerade so noch eingehalten, weil wir einfach wegen der Energiekrise zuletzt viel Energie eingespart haben. Doch wir können eindeutig sehen, dass das, was wir mit den eingeleiteten Maßnahmen erzielen werden, nicht ausreichen wird. Daher muss die nächste Regierung ganz klar deutlich größere Klimaschutzmaßnahmen treffen. Tut sie das nicht, wird es dazu Urteile höchst richterlicher Art geben. Das heißt, ein Herr Merz müsste als möglicher Bundeskanzler eigentlich sehr ambitionierten Klimaschutz betreiben. Ich würde mir daher in der politischen Debatte wünschen, dass auch die Union mal formuliert, wie sie das erreichen möchte. Es gibt aber gar keinen Plan, der auf dem Tisch liegt. Und das bereitet mir Sorgen. Denn eigentlich würde man sich das in einer Demokratie anders wünschen.

Wie genau?
Dass alle großen Parteien einen Vorschlag machen und man sich am Ende für den besten entscheidet. Die Grünen haben einen Vorschlag gemacht, der für das Erreichen der Klimaschutzziele am ehesten in die richtige Richtung geht, aber noch nicht einmal ausreichend war. Von den anderen Parteien kommen im Prinzip gar keine sinnvollen Vorschläge, die erkennbar werden lassen, wie wir klimaneutral werden sollen. Und dadurch werden natürlich diese Kämpfe, die wir jetzt zunehmend sehen, fortlaufen. Zum Beispiel aktuell bei der Streichung von Agrarsubventionen. Denn wir müssen die Klimaschutzziele einhalten, es gibt ja schon vom Verfassungsgericht einen Richterspruch dazu, und es wird weitere geben. Wenn man dann mit der „Brechstange“ vorgehen muss, wird es massivste Widerstände aus der Bevölkerung geben, weil die Leute so schnell nicht mitgehen können. Das heißt, diese Antipolitik und diese Lösungsverweigerung, die die Politik vorantreibt, ist aus meiner Sicht am Ende auch demokratiegefährdend. Wenn die Menschen nicht mitgenommen werden, ist das natürlich ein idealer Nährboden für Populisten und die AfD.

Kann man dieser Entwicklung mit faktenbasierter Aufklärung überhaupt noch entgegenwirken?
Man muss es natürlich versuchen. Man findet in den sozialen Netzwerken alle möglichen Fake News, und auch den Medien wird nicht mehr sonderlich viel zugetraut. Da ist bei manchen eine Telegram-Verschwörungsnachricht genauso viel wert wie ein recherchierter Bericht in der „Tagesschau“. Und es ist natürlich schwer, zu solchen Menschen durchzudringen. Aber ich sage mir immer: Am Ende gewinnt stets das seriöse Argument. Wenn man zeigt, dass etwas funktioniert, bekommt man diese Mythen entkräftet. Die Elektromobilität zum Beispiel wurde so sehr abgelehnt: Man kommt nicht weit, man bleibt im Stau liegen und was da nicht alles behauptet wurde! Ich fahre schon sehr lange elektrisch, und am Anfang waren die Nachbarn ebenfalls skeptisch. Aber dann sahen die halt: Der Herr Quaschning fährt in den Urlaub – und er kommt auch wieder zurück. (lacht)